Populismus und Corona Stunde der Wahrheit für die Politik der Lüge Eine Kolumne von Christian Stöcker In den USA, Brasilien und Großbritannien regieren Männer, denen Fakten egal sind, wenn es um ihre Macht geht. Eine Pandemie aber lässt sich nicht weglügen. Das zeigt sich jetzt immer deutlicher. 28.06.2020, 18.23 Uhr Trump und Johnson als Wandgemälde in Bristol Trump und Johnson als Wandgemälde in Bristol Matt Cardy/ Getty Images Es gibt gewaltige Unterschiede zwischen den USA, Brasilien und Großbritannien was das politische System, die Traditionen, das Selbstverständnis und die Geschichte angeht. Eines aber haben die drei Länder gemeinsam: Sie gehören zur weltweiten Spitzengruppe, was die täglichen Todesfälle durch Covid-19 angeht. Auch die politischen Anführer Donald Trump, Boris Johnson und Jair Bolsonaro verbindet ein entscheidender Zug: Sie betrachten Fakten als optional. Sie haben keinerlei Scheu davor, öffentlich zu lügen. Sie interessieren sich mehr für ihr eigenes Fortkommen als für die Interessen ihrer Bevölkerung. Die populistische Lüge als primäres Mittel der Politik hat allen dreien in der Vergangenheit gute Dienste geleistet. Alles verziehen, alles ignoriert Christian Stöcker SPIEGEL ONLINE Jahrgang 1973, ist Kognitions­psychologe und seit Herbst 2016 Professor an der Hochschule für Angewandte Wissenschaften Hamburg (HAW). Dort verantwortet er den Studiengang "Digitale Kommunikation". Vorher leitete er das Ressort Netzwelt bei SPIEGEL ONLINE. Mit der Lüge als Mittel der Politik ist es aber so eine Sache: Sie kann kurzfristig hervorragend funktionieren und dem Lügner, wenn er auf eine verführungswillige Wählerschaft trifft, erstaunliche Erfolge bescheren. In gewissen Grenzen, das hat vor allem Donald Trump aufs Schauerlichste bewiesen, kann man sogar mit fortgesetzten, nachweislichen Lügen Erfolg haben. So lange nämlich, wie die eigene Wählerbasis alles ignoriert oder verzeiht, was sich ignorieren oder verzeihen lässt, wenn nur die eigenen Ressentiments verlässlich weiter bedient werden. Donald Trump und Jair Bolsonaro fördern das Wohlbefinden ihrer rechten bis rechtsextremen Wählerschaft, indem sie Minderheiten abwerten. Und Boris Johnson streichelte lange sehr erfolgreich die geschundenen postimperialen Seelen all jener Pro-Brexit-Briten, die ihr Land einfach gern wieder so wichtig, mächtig, unabhängig und unerschrocken sehen wollten wie zur Kolonialzeit. Die nachgewiesenen, fatalen Lügen der Brexiteers sind längst ziemlich deutlich sichtbar, aber die Bereitschaft, das eigene Ressentiment über die Realität zu stellen, scheint bei Teilen der britischen Wählerschaft ungebrochen. Die Reflexe der Lügner Die Reflexe der drei populistischen Lügner waren auch im Zusammenhang mit dem Coronavirus die gleichen: abwiegeln, für irrelevant erklären, sich über die Besorgnis von Fachleuten lustig machen, mit dem Ignorieren von sinnvollen Ratschlägen zum Selbstschutz "Männlichkeit" demonstrieren. Boris "ich gebe weiterhin jedem die Hand" Johnson sieht all das nach seinem Corona-bedingten Aufenthalt auf der Intensivstation sicher ein bisschen anders. Versagt hat seine Regierung bei der Bekämpfung der Pandemie trotzdem. Kein anderes europäisches Land hat das Virus so hart getroffen wie Großbritannien. Auch Spanien oder Italien nicht, wenn man sich die Zahl der Opfer ansieht. Und die Briten haben das auch verstanden. Eine überwältigende Mehrheit ist mit der Leistung ihrer Regierung in der Krise unzufrieden, Johnsons eigene Popularitätswerte sind zwar nach wie vor erstaunlich hoch, sinken aber. Eine Mehrheit ist der Meinung, dass er seine Arbeit nicht gut macht. Prognose: Das wird noch schlimmer. "Schlecht oder schrecklich" Aus Brasilien gibt es keine aktuellen Zahlen, aber schon Ende Mai sagten 49 Prozent der Brasilianer einer Umfrage zufolge, sie rechneten damit, dass der Rest von Bolsonaros Amtszeit "schlecht oder schrecklich" verlaufen würde. Und das war, deutlich bevor Brasilien sich an die Spitze der Statistik für Covid-19-Tote pro Tag setzte. Dank der Besonderheiten des politischen Systems in Brasilien muss das Bolsonaro aber womöglich zunächst gar keine großen Sorgen machen. Sehr peinlich jedenfalls, dass ein Gericht ihn jetzt zwingt, endlich eine Maske aufzusetzen.